Von weltweit acht Millionen Arten sind derzeit geschätzt mindestens eine Million vom Aussterben bedroht. Warum ist das für uns Menschen relevant?
Franz Essl: Wir sprechen hier von Biodiversität, also von der Vielfalt des Lebens. Wir Menschen sind ein Teil davon, deshalb ist das auch die Grundlage unserer Existenz. Ohne das grüne Fundament des Lebens würde unsere Gesellschaft de facto nicht einen Tag überleben können – auch wenn das in der eher technisch geprägten und stark ausgebauten westlichen Zivilisation vielleicht nicht so stark ins Auge fällt. Aber wir erhalten unsere Nahrung und eine Vielzahl anderer „Leistungen“ aus den Ökosystemen.
Was heißt das konkret?
Die Balance der Natur gerät aus den Fugen und damit geraten unser Nahrungsmittelsystem, unsere Gesundheit und unsere Lebensqualität in Gefahr. Weniger Arten bedeutet weniger Resilienz. Dass Bestäuber wie Bienen wichtig sind, haben inzwischen die meisten Menschen begriffen. Aber wir brauchen Mikroorganismen und viele andere, oft unscheinbare Arten, um Böden fruchtbar zu halten. Wenn Arten sterben, ist beispielsweise auch die Produktion von Heilmitteln in Gefahr. Ein artenreiches System kann den Ausfall einzelner Arten besser kompensieren. Gibt es zu wenige Arten, fällt dieser Puffer weg. Kurz: Wenn wir weiterhin zulassen, dass Arten in raschem Tempo verschwinden, schwächen wir letztlich unsere eigene Lebensgrundlage. Und hier sind wir bereits im roten Bereich, denn der Artenverlust ist längst ein globales Problem.
Warum fällt uns das noch nicht auf?
Weil viele dieser Veränderungen auf der Basis vieler kleiner Schritte erfolgen. Doch wenn wir uns Landschaftsfotos anschauen, die vor 50 Jahren aufgenommen wurden, sehen wir die gravierenden Einschnitte. Dazwischen liegen vermeintlich kleine Dinge – eine Hecke wird dort gerodet, ein Feld hier vergrößert und bald sieht die Landschaft völlig anders aus. Nicht nur für uns Menschen, sondern auch für Tiere und Pflanzen, die dort leben und für die es dann meist deutlich unwirtlicher aussieht. Vor allem die Versiegelung und der Flächenfraß spielen hier eine große Rolle.
Trotzdem hat Biodiversität in der Politik keine hohe Priorität – liegt in einer schwächelnden Wirtschaftslage der Fokus zurecht woanders?
Das ist aus meiner Sicht ein Trugschluss. Denn zum einen wird das, was vielfach als Einschränkung dargestellt wird, ja auch neue wirtschaftliche Chancen eröffnen. Und ganz klar ist: Es wird keine intakte Wirtschaft auf einem zerstörten Planeten geben. Deshalb sprechen wir nicht von einem kosmetischen Luxusproblem, dem wir uns dann widmen können, wenn alles andere erledigt ist. Das System, in dem wir existieren, ist eingebettet in den Planeten Erde – nicht umgekehrt. Wenn dieses große übergeordnete System seine Funktionalität verliert, brechen auch die anderen Subsysteme zusammen. Schon jetzt treiben Preissteigerungen durch Ernteausfälle die Inflation.
Verliert die Wissenschaft mit zunehmender Desinformation und alternativen Fakten im Moment ebenfalls an Boden?
Kein Wirtschaftstreibender plant seine Investitionen nach unüberprüften Social-Media-Nachrichten, sondern richtet sich nach Werten und Fakten. Macht er das nicht, wird es nicht lange gut gehen. Ich sehe unverändert das Primat der Überprüfbarkeit, der Nachvollziehbarkeit und der Faktentreue. Dieses Primat und den Wert der Wissenschaft müssen wir in gesellschaftlichen Diskursen verteidigen, dazu gehört auch das Thema Biodiversität.

Welche Stellschrauben haben wir, um Biodiversität zu schützen und unsere Ernährung langfristig zu sichern?
Es gibt nicht den einen Hebel, den wir umlegen und alles ist gelöst. Wir brauchen viele verschiedene Maßnahmen. Ich möchte einige Punkte herausgreifen:
- Maßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt wirken sich auch positiv in anderen Bereichen aus. Halbwegs intakte Auen oder Flusskorridore führen zum Beispiel auch dazu, dass Hochwässer weniger intensiv ausfallen.
- Wollen wir Landwirtschaft ertragreich betreiben, brauchen wir ein Grundgerüst an intakten und vernetzenden Lebensräumen in einer Kulturlandschaft – das heißt: Wir brauchen Rückzugsräume für Nützlinge oder Hecken, die den Wind bremsen und so vor Erosion schützen, was bei Trockenheit und Dürre immer wichtiger wird.
- Wir können den Klimawandel zwar nicht aufheben, aber wir können ihn in den Wirkungen abmildern. Naturschutz ist meistens auch Klimaschutz – etwa, wenn wir Moore bewahren und damit Wasser ebenso wie Kohlenstoff speichern und Arten erhalten.
Sehen Sie auch gute Entwicklungen?
Derzeit dreht sich die „Großwetterlage“, aber grundsätzlich sehe ich ein starkes Bewusstsein, das prinzipiell vorhanden und aktivierbar ist. Nehmen wir das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ in Bayern: Mehr als 1,7 Millionen Wahlberechtigte haben sich eingetragen, eine echte Koalition der Zivilgesellschaft. Auch der Fleischkonsum geht seit Jahren in Europa zurück. Sie finden kaum noch ein Lokal, in dem nicht wenigstens eine vegane oder vegetarische Speise angeboten wird. Und es gibt Ansätze, die Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft nicht mehr auf den höchsten Ertrag auszurichten.
Warum ist weniger Fleischkonsum wichtig?
Oft wird übersehen, dass wir in der Nahrungskette durch den Fleischkonsum noch eine Ebene mehr haben, denn auch die Nutztiere müssen ernährt werden. Das heißt, man verliert einen Großteil der Energie, der Fläche und der Nahrungs- und Futtermittel zum Aufbau des Fleisches. 80 - 90 Prozent der Energie braucht das Tier selbst, um zu wachsen. Ein Großteil unserer Felder, die wir in Mitteleuropa bestellen, dienen nicht dem menschlichen Verzehr, allein in Deutschland wird 60 % der Agrarfläche für Futteranbau genutzt. Das zeigt die Dimension, warum Fleischkonsum so hohe Auswirkungen auch auf Flächen hat.